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Neo-Advaita und nonduale Lehrmethoden

Folgende Fragen sind nicht wörtlich, sondern gekürzt oder in eigenen Worten sinngemäß wiedergegeben.


Frage: Die meisten spirituellen Lehren rufen zu allen Arten von Übungen auf, die mit großer Disziplin abgearbeitet werden sollen, um das persönliche Selbst zu überwinden. Andere nonduale Lehren betonen, dass es kein Ich gibt und somit auch nichts getan werden kann. Das höre ich immer öfter. Was ist richtig? Sie vertreten in Ihrem Buch (Die Entdeckung der Ichlosigkeit) eher die zweite Haltung, oder? 

 

Pfr: Erst mal ist die Aussage „Es gibt kein separates persönliches Ich“ natürlich richtig. Sie stellt eine Wahrheit dar. Niemand hat bisher ein solches separates Ich aus eigener Erfahrung gefunden. Diese Ichlosigkeit lässt sich auch neurowissenschaftlich begründen. Und die zweite Aussage ist auch richtig: es kann nichts getan werden, um das zu werden, was man schon ist. Auch eine Wahrheit. Aber Wahrheiten sind keine Lehrsätze. Die Wahrheit hilft nicht, sie ist einfach nur wahr. In diesem Sinne wird sie auch im Buch (Die Entdeckung der Ichlosigkeit) behandelt, das kein typisches Lehrbuch darstellt und auch nicht sein will.

 

Nun gibt es Strömungen im Advaita, die die Nicht-Existenz eines persönlichen Ich sehr stark betonen und zum zentralen Anliegen ihrer Lehre machen. Dafür wurde auch ein Ausdruck erfunden: Neo-Advaita. Der Begriff stammt, glaube ich, von Francis Lucille und hat einen abwertenden Beiklang. Dabei hat sich gezeigt, dass für manche Sucher der kompromisslose Ansatz dieses Lehransatzes von großer Wirkung sein kann. Er packt das Problem direkt am neuralgischen Punkt an und lässt dem zappelnden Ich kein Entkommen. Gerade für Menschen, die sich stark mit ihren Gedanken und Entscheidungen identifizieren, kann der Ansatz eine große befreiende Wirkung haben.

Andererseits reicht es nicht, das separate Ich zu dekonstruieren. Statt den Trennungsschmerz zu überwinden führt die Erfahrung der Ichlosigkeit viele Menschen nach kurzer Zeit wieder in erneute Unsicherheiten und erzeugt neue Trennungsgefühle. Unsere Todesangst besteht ja weniger in der Furcht vor dem Verlust eines persönlichen Ich, sondern in der Furcht aus der bewusst wahrgenommenen Welt für immer zu verschwinden, also die Existenz bzw. das Sein an sich einzubüßen. Es ist die Angst vor dem lauernden Nichts. Und so stellen sich erneut Fragen wie: „Wer erlebt das nun alles?“, „Wer sieht?“ oder „Wer versteht?“. Diese Fragen mit „Es gibt keinen Beobachter“ oder „Die Welt erlebt sich selbst“ abzutun, stiftet regelmäßig Verwirrung. Die Nicht-Ich-Lehre läuft Gefahr in den reinen Materialismus abzudriften, der ja das Ich auch als neuronale Illusion leugnet. Die bewusste Wahrnehmung kann der Materialismus nicht erklären und leugnet sie bar jeder Vernunft gleich mit.

Trotzdem ist die Dekonstruktion des getrennten Selbst nicht falsch. Sie reicht aber nicht. Um es mathematisch auszudrücken: die Dekonstruktion des Selbst ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Überwindung unseres Trennungsschmerzes und für das Verständnis unserer wahren Natur.

 

Die klassischen spirituellen Lehren gehen meist einen anderen Weg. Sie geben dem Sucher diverse Techniken zur Hand und schicken ihn auf einen teilweise langen und entbehrungsreichen Weg zur Ergründung seiner wahren Natur. Dieser Weg wird dann allerdings oft als Methode der Selbstverbesserung missverstanden und vom getrennten Ich, dem Ego, gekapert, das sich auf diese Weise ein edles spirituelles Kostüm zulegen möchte. Diese Reise mündet daher ebenfalls häufig in Frustration und Stagnation. Beide gegensätzlichen Ansätze: „Es gibt nichts zu tun“ und „Es sind viele Mühen notwendig“ sind also fragwürdig. Außerdem wird immer irgendetwas getan. Auch Nicht-Tun ist eine Form des Handelns. Insofern geht es nicht darum, „ob“ wir handeln oder nicht, sondern „wie“ wir handeln. Und es gibt nun mal Aktivitäten, die unsere Auffassung als getrenntes Ich bestärken und andere, die es abschwächen. Zu Letzteren können die Dekonstruktion des Ich aber auch klassische Meditationsmethoden gehören.

 


Frage: Man braucht also beides, die Selbst-Dekonstruktion und die Selbst-Erfahrung?

 

Pfr: Ob überhaupt etwas und was im Einzelfall gebraucht wird, scheint mir eine sehr individuelle Frage zu sein. Für ein Lehrbuch ist das schwierig umzusetzen, da es ja keine individuellen Unterschiede treffen kann. In meinem Buch (Ich - Wer ist das?) beginne ich mit der Dekonstruktion um dann zum weiteren Forschen anzuregen. Wenn es kein individuelles Ich gibt, was macht uns dann aus? Was meinen wir dann, wenn wir "Ich" sagen? Man kann aber auch die umgekehrte Reihenfolge rechtfertigen, wie es z.B. Greg Goode vorschlägt. Das klassische Advaita-Vedanta setzt die Dekonstruktion an letzte Stelle.

 


Frage: Sie bleiben in Ihrem Büchern dem Leser gegenüber immer sehr distanziert. Die Texte haben etwas Seminaristisches an sich. Die meisten anderen spirituellen Texte, die ich kenne, sprechen den Leser mit „du“ sehr direkt an, versuchen ein möglichst enges und vertrautes Verhältnis aufzubauen. Wieso halten Sie so Abstand?

 

Pfr: Berufskrankheit…

1. Ich sehe meinen Beitrag tatsächlich weniger persönlich als wissenschaftlich. In der Wissenschaft ist es wichtig, die fachliche Methodik und das persönliche Anliegen scharf zu trennen. Ansonsten besteht die Gefahr Ergebnisse verfälscht widerzugeben, wenn sie z.B. nicht den persönlichen Überzeugungen und Ambitionen des Wissenschaftlers entsprechen. Das passiert derzeit in der Wissenschaft leider relativ häufig. Daher sollte der Wissenschaftler immer einen persönlichen Abstand zu seinem Forschungsthema halten.

 

2. Das Forschungsfeld der Nondualität ist von Natur aus unpersönlich. Es ist ja gerade das Anliegen der Nondualität das unpersönliche Zusammenwirken allen Seins zu ergründen und offen zu legen. Dazu scheint mir eine zu starke persönliche Bezugnahme eher kontraproduktiv und widersprüchlich zu sein. Aber auch das lässt sich nicht verallgemeinern. Viele Menschen wollen eine enge persönliche Ansprache, manch Anderen ist das unangenehm. Ich spreche eher letztere an.

 

3. Die unpersönliche Form des „Sie“ ist für mich auch eine Frage des Respektes. Um mich richtig zu verstehen: ich habe kein Respekt vor den Allüren des getrennten Ich, die ich bei vielen Kommunikationspartnern erkenne. Aber ich achte und respektiere das Zusammensein mit der wundervollen und einzigartigen Form, die mir in jedem Menschen begegnet. Außerdem betont das „Sie“ die Gleichstellung und Hierarchielosigkeit. Im Sein gibt es keine Hierarchie!


Frage: Und was ist denn nun mit der Liebe? Die erwähnen Sie ja auch, zwar nur am Rande, nebenbei... Warum geizen Sie so mit liebevollen Ausdrucksformen?

 

Pfr: Weil ich kein Pastor bin! Wir verstehen im Alltag unter Liebe ein positives Gefühl der Zuneigung. Ein Gefühl ist ein Objekt und Objekte kommen und gehen. Tatsächlich ist Liebe aber die Bezeichnung für eine nicht-objektive Erfahrung, nämlich die Erfahrung unseres bewussten Seins. Mit dieser Erfahrung verschmilzt alles Wahrgenommene. Liebe ist ein anderer Ausdruck für die Erfahrung der Ungetrenntheit. Aus ihr resultiert ein tiefer Friede, der nicht mit einem „friedlichen Gefühl“ oder einer „friedlichen Einstellung“ verwechselt werden darf. In allen meinen Texten geht es um diese nicht-objektive Erfahrung. Es geht also immer um Liebe. Das wird nur leider oft nicht erkannt. Die meisten Menschen suchen Liebe ausschließlich in objektivierbaren Umständen, sie können mit dem Hinweis auf das Nicht-objekthafte nichts anfangen. Über die sog. „relative Liebe“ zwischen Individuen wird ja viel geschrieben, eigentlich in jedem Buch, das Thema füllt die Bibliotheken. Dagegen verstehe ich unter „absoluter Liebe“ etwas, was sich nicht beschreiben lässt. Liebe ist eben nur ein anderer Begriff für „Freiheit“, „Gott“, „das Eine“ etc. etc., was sich jeder Beschreibung entzieht, da jede Beschreibung ein Vergleich darstellt. Und Vergleiche trennen. Man kann etwas Untrennbares nicht vergleichen. Wie gesagt, man kann Liebe nicht beschreiben, daher bin ich mit dem Versuch etwas zurückhaltend.

 

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